Plädoyer für Wunden und Risse
September 2014

Plädoyer für Wunden und Risse

Mein Freund Alexander Seiler schickt mir heute den Link zu einem ZEIT-ONLINE Interview (zeit.de/zeit-wissen/2014/05/byung-chul-han-philosophie-neoliberalismus) mit dem Berliner Philosophen Byung-Chul Han. Ich kannte ihn bisher nicht, aber nach dem Lesen des kurzen Interviews, bin ich sofort sein Fan. Er bekommt von mir den gedanklichen Like-Button, über dessen Existenz er sich kritisch äußert. Er vergleicht die Gefälligkeit unseres Zeitalters in der Liebe, der Kunst und in der der Politik. Letztlich ist alles nur noch glatt.

„Bei Jeff Koons’ Skulpturen gibt es keine Verletzung, keine Brüche, keine Risse, keine Bruchstellen, keine scharfen Kanten, auch keine Nähte. Alles fließt in weichen, glatten Übergängen. Alles wirkt abgerundet, abgeschliffen, geglättet – Jeff Koons’ Kunst gilt glatter Oberfläche. Heute entsteht eine „Kultur der Gefälligkeit“, kommentiert Byung-Chul Han.
Wie passend, dass wir gerade eine Ausstellung mit dem Titel „Riss“ zeigen. Die beiden Künstler Ali Kaaf und Said Baalbaki lassen die Verletzungen zu, sie haben sie in ihren Biografien erlebt – Ali Kaaf stammt aus Syrien, Said Baalbaki aus dem Libanon – und sie fließen in ihre Kunst ein, sind vielleicht sogar eine der Antriebsfedern für ihr Schaffen.
Said Baalbaki zeigt den verwundeten Traum von seinem Libanon: Mon (t) Liban. Die Gebirgskette des Libanons, die schon zu biblischen Zeiten für die Schönheit dieses Landes und dieser Landschaft stand, wird mit der Realität konfrontiert. Die Heimat und die Erinnerung an sie ist mit viel Schmerz und Leid verbunden, die Koffer, Jacken, Alltagsgegenstände stapeln sich auch zu einem Mont Liban und so stehen sich beide gegenüber: die Idylle des Berges, der Schutt der vermeintlichen Zivilisation. Der Maler schafft sich eine künstlerische Identität, indem er die Flächen und die Farben zu einer neuen Welt anhäuft. Die alte Lutherbibel mit dem schönen Stich vom Berg Libanons steht der Skulptur gegenüber, die die wenigen verbliebenen Gegenstände aus einem zerstörten Haus, einem zerstörten Leben anhäuft. Wie eine schützende Decke oder ein erdrückender Albtraum wölbt sich wiederum der Mont Liban darüber. Die letzten Utensilien eines menschlichen Haushalts, wie ein Kochtopf, Pfannen, Löffel und Amphoren befinden sich darunter, dem endgültigen Untergang geweiht oder zusammengeschurrt für einen Neuanfang.
Glatt ist hier jedenfalls nichts.
Auch bei Ali Kaaf nicht, der künstlerisch ganz anders arbeitet und vorgeht. Biografisches Verarbeiten ist hier vordergründig nicht ersichtlich, aber auch er taucht tief ein in die Schnittstellen zwischen Wunden und Heilung. Er zerstört sein Papier mit Feuer, geht ein Risiko ein, um genau den für ihn als Künstler richtigen Punkt zu finden, an dem er es wieder löscht. So kann für den Moment der Kunst ein Raum entstehen, der das Nichts, den Wunsch beinhaltet. Aber das geht erst nach einer Verbrennung, einem Wunden zuführen, nicht mit polieren. Wenn er auf einem zweiten dahinter gesetzten Papier die Form wieder ergänzt, ist es jedoch eine ganz andere geworden, ihre Kanten kommen nie wieder aneinander, sie sind jetzt zwei und doch eins. Alleine funktionieren sie nicht. Sie sind verletzt, unvollständig allein und suchen die Vollkommenheit in der Vereinigung mit dem Anderen, dem Andersartigen. Dualität in der Kunst wie auch im Leben.
Die Abwesenheit dessen, was verbrannt wurde wird ebenfalls zum Bildgegenstand, wir sollen es spüren, das abwesend-Anwesende.
Den kriegerischen Helm aus Metall, der vor Verwundungen schützen soll, verkehrt Ali Kaaf in eine Glasskulptur, die Zerbrechlichkeit per se. Die Lichteffekte, die an einigen durchscheinenden Stellen das kompakte Schwarz aufbrechen, lassen vielleicht ein paar zarte Hoffnungsstrahlen zu.

Nachdem ich diese Zeilen in den Computer getippt habe und mich auf den Heimweg mache, werde ich von einem jungen Mann mit libanesischem Wurzeln angesprochen, er steht an einem Infostand der UNHCR Flüchtlingshilfe. Ich bin bepackt, will nach Hause und bin überhaupt keine Freundin davon, auf der Straße angequatscht zu werden, werde dann meist sehr barsch. Aber der Student schafft es, mich dazu zu bewegen, ihm und seinem Anliegen, nämlich die Unterstützung des internationalen Flüchtlingswerks, zuzuhören. Der Riss im wirklichen Leben breitet sich vor mir aus, 40 Millionen Menschen sind der Zeit auf der Flucht. Sie haben wirklich andere Probleme als einen Kratzer auf ihrem I-Phone (s. Byung-Chul Han). Ich erzähle dem jungen Mann von der Installation seines Landsmannes Said Baalbaki und gebe ihm die Einladungskarte der Ausstellung. Ich ziehe davon mit einer unterschriebenen Erklärung, UNHCR zu unterstützen.