Heutige Zeitungslektüre: Ambivalenz von Sehnsucht und Realität/Oder: Lurchi und die Ukraine
März 2022
Es gibt Dinge, Erinnerungen, Geschehnisse, Menschen, an die man Jahrzehnte nicht denkt, und auf einmal sind die Bilder so intensiv wieder da, als wären sie niemals fort gewesen. Es bedarf nur eines kleinen Auslösers von außen, der wie ein Magnet die entsprechende Erinnerung abruft, die irgendwo zwischen Millionen anderer liegt wie ein winziges Elementarteilchen. So sprang mir heute im Tagesspiegel ein Artikel über Lurchi entgegen (vgl. Der Tagesspiegel vom 14.3.2022, Comic-Held der Woche, „Langlebiger Salamander“ von Martin Jurgeit, Weltspiegel, S. 24)
Ich sah mich plötzlich als Kind – der Magnet hatte sekundenschnell seine Anziehung unter Beweis gestellt – wie ich die kleinen dünnen Heftchen mit dem grünen Cover und dem Salamander mit dem grünen Hut verschlang und sammelte. So oft konnte ich doch gar keine neuen Schuhe bekommen haben, dachte ich, denn man bekam sie nur im Salamander Schuhgeschäft gratis zum Kauf dazu. Den Stapel hütete ich wie meinen Augapfel. Ich erinnere keine konkreten Geschichten mehr, nur dass Lurchi ein tatkräftiger zugewandter Held war. Ein Wohlgefühl stellte sich kurzerhand ein, selbst wenn ich keine weiteren Details mehr zusammenbrachte. Er muss einfach einer von den Guten gewesen sein. Nun las ich, dass es Lurchi seit 85 Jahren gab und die Heftchen tatsächlich nicht eingestellt, sondern trotz turbulenter wirtschaftlicher Zeiten der Firma Salamander von einem neuen Zeichner fortgesetzt werden sollten. Ob die im digitalen Zeitalter aufgewachsenen Kinder Lurchi so liebten wie ich? Er muss eine Art Robin Hood sein, jedenfalls einer, der alles wieder in Ordnung brachte, wenn Mal was schieflief. Alle, damals noch in Reimform geschriebenen Geschichten endeten mit den Worten: „Salamander lebe hoch!“
Doch die Tageszeitung ist ja nicht dazu da, einen das Träumen zu lehren. Es geht um die Wirklichkeit und die ist gerade äußerst grausam. Nach zwei Wochen Ukraine-Krieg suche ich in der Berichterstattung vergeblich Anzeichen von Hoffnung, dass man sich einem Waffenstillstand nähert. Ich suche nach tiefergehenden Informationen, die einen das ganze Unheil nur annähernd begreifen lassen. Über die Ukraine weiß ich eigentlich nichts, außer die bekannten Schlagworte Donbass, Krim, Maidan. Der Artikel „Am Rand des Abgrunds“ von Ulrike von Hirschhausen (Der Tagesspiegel vom 14.3.2022, Kultur, S. 19) belehrt mich über mir völlig unbekannte historische Gräuel. Anfang der 1930er Jahre hatte Stalin gezielt eine Hungersnot ausgelöst, um ukrainische Bauern und nationale Kommunisten in die Knie zu zwingen. 5-6 Mio. Ukrainer starben an Hunger, weil Stalin einen Getreidezoll eingeführt hatte, der vielen Ukrainern nichts mehr zum Überleben ließ.
Lurchi und die Ukraine in einer Zeitung. Welcher Held kann Putin stürzen, Frieden bringen? Lurchi kann da leider nicht helfen, aber er hat mich zutiefst an die Sehnsucht nach Gerechtigkeit erinnert, die ich bereits als Kind hatte. Der Salamander konnte sie befriedigen. Heute wird jeder ukrainischer Kämpfer und der Präsident des Landes als Held gefeiert.Welchen Helden kann es geben, die Welt zu retten, in die sich die Machtgelüste, die Gier und die Menschenverachtung so fest mit dem globalen Gebiss des Schneller-Höher-Weiter hineingefressen haben ohne Rücksicht auf Verluste? Jeden Tag, immer wieder, jeder Einzelne von uns sei gefordert, schon bei den ersten Alarmzeichen gegenzusteuern, Alarm zu schlagen.
Am liebsten würde ich heute eine Salamanderfiliale ansteuern, falls es in Berlin eine gäbe und meine Nase in ein Lurchiheft stecken. Doch mit der Unschuld des Kindes ist es ja schon lange vorbei. Auch meine Stube wird zu großen Teilen mit russischen Gaslieferungen warm und das ist bewusst politisch und wirtschaftlich so in die Wege geleitet worden, trotz Grosny und Aleppo. Ich möchte frieren, doch selbst das ist heute offenbar unendlich kompliziert. Ich soll jetzt Waffenlieferungen gut heißen, tue es natürlich mit der Stimme der Vernunft und will es im Grunde meines Herzens doch nicht. Ach Lurchi…