Schiesser macht’s möglich
April 2018

Schiesser macht’s möglich

Wer von den Zeitungslesern kennt das nicht? Man wundert sich, dass die Zeitung so dick ist, obwohl es keine Wochenendausgabe ist und fischt erst einmal stapelweise Werbeprospekte hervor, die in der Regel sofort in den Müll wandern. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Schiesser Werbung wahr und behalte sie. Eine ältere Dame mit jugendlichem Flair lächelt mich aus einem alten rostigen Van an, legere weiße Bluse, Ärmelknöpfe offen, eine Hand am Lenkrad, die andere am heruntergekurbelten Fenster, eine Aussteigetype, wo auch immer, jedenfalls nicht in unseren nordischen Gefilden. Ich stutze und blättere das Heft auf: Ein Foto von einer jungen Frau in Unterwäsche und Gummistiefeln, die auf einem alten Holzgeländer steht, das scheint wohl der neue stylishe Look beim Kuhstall Ausmisten zu sein. Daneben folgender Text: „Natürlichkeit ist ein Bekenntnis zu dir selbst. Du lebst so, wie du bist. Und nicht so, wie andere dich gerne hätten. Du bleibst dir treu und gehst deinen eigenen Weg…“ Da ringe ich seit 58 Jahren mit mir, zweifle, hadere, suche den vermeintlich richtigen Weg, versuche mich zu verändern, nehme Neues auf, integriere Altes, reibe mich mit anderen, versöhne mich, um mir selbst jedes Mal wieder ein Stück näher zu sein, aber auch denen, die mich umgeben. Dabei hätte ich es einfacher haben können und nur die richtige Unterwäsche tragen sollen! Und bei noch etwas lag ich wohl in all den Jahrzehnten schief: Ich kann meine Mitmenschen ignorieren, es geht ja nur um mich. „…gehst deinen eigenen Weg…“, was mache ich nur, wenn da noch andere sind, die meinen Weg kreuzen, mit mir gehen wollen oder mich vom Weg abbringen wollen? Ihnen Schiesser Wäsche schenken? Das ist ein verdammter Luxus, so leben zu können, wie man ist. Sollen wir alle Obdachlosen, Flüchtlinge, in Krisen- und Kriegsgebieten Lebenden einfach mal eine Runde richtige Unterwäsche spendieren? Dann können die sich auch endlich mal authentisch fühlen!
Im Bioladen bekomme ich dann noch zwei Teebeutel als Gratisprobe geschenkt. Der eine hat die schöne Aufschrift: „HAPPINESS IS…DEINE WILDE NATUR ZU ENTDECKEN UND NACH DEN STERNEN ZU GREIFEN. SPÜRE DIE FREIHEIT“
Das sind also die Botschaften unserer Zeit, und ich wundere mich, warum es immer mehr einsame Menschen gibt, sich niemand um Alte und Kranke kümmern will, Egoismus mehr und mehr um sich greift, Empathie für einige immer mehr zum Fremdwort wird. Wegen einer vermeintlich falschen Kopfbedeckung gibt es was auf den Schädel, egal, ob da jemand gerade seinen Weg gefunden hat. Andere Wege genauso zu respektieren, das fehlt im Programm. Wenn einer einen Stern erheischt, setzt er ihn nicht an unseren gemeinsamen Himmel, sondern behält ihn für sich.
Zwei Tage später erzählt mir eine Freundin aus ihrem Erzieherinnenalltag, ein Mädchen setzt sich auf einen schon am Boden liegenden Jungen, würgt ihn. Als es dafür von Seiten der Erzieherin Sanktionen geben soll, die vergleichsweise harmlos sind, nämlich dem Jungen 14 Tage lang Aufmerksamkeit entgegenzubringen, indem sie ihm Wasser zu den Mahlzeiten reichen soll, erbost sich die Elternschaft. Was für eine Demütigung für das Mädchen! Klar, sie lebt halt, wie sie ist. Aber, ob der an der Erde auch lebt, wie er ist?

Christiane Bühling