Flaneurin zwischen Terminen
Juli 2021
Wir sind darauf konditioniert, Termine dicht in den Kalender zu drängen, damit wir keine Zeit verplempern. Sind es außer Haus Verabredungen taktet man sie so, dass möglichst keine Lücken zwischen ihnen entstehen. Wie schön, dass dies an einem Dienstag im Juli nicht funktionierte, weil die anderen nicht so Zeit hatten, dass sich alles nahtlos aneinanderfügte. Es gab Zeitfenster, in denen ich mich rund um die Kochstraße/Zimmerstraße bis zur Berlinischen Galerie in der Alten Jakobstraße schlendernd treiben lassen konnte. Ein wunderbarer Luxus.
Der Tag begann mit einem privaten Gang mit meiner alten Mutter zum Augenarzt auf der Rückseite des alten Axel- Springer-Hauses. Das Café in der Zimmerstraße, in das wir uns anschließend setzten, spülte die jungen Leute aus den umliegenden schicken Büros für eine Pause hierher. Wie heute so häufig an solchen Orten fanden die Gespräche nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Englisch oder Spanisch statt oder man hörte einen deutlichen Akzent der Deutsch sprechenden Akteure. Erst später fügte sich diese relativ banale Beobachtung in meine Wahrnehmungen dieses Vormittags.
An der Infostele über Peter Fechter vorbei, der 18 jährig im Mauerstreifen vor den Augen der Öffentlichkeit verblutete, treffe ich auf die Restposten des Checkpoint Charlie. Er wirkt wie eine von Disney nachgebaute Reminiszenz, die ersten Nach-Corona-Touristen fotografieren sich schon wieder in ihren Posen. Die klaffende Wunde der Stadt und in den Herzen vieler Menschen spüre ich hier nicht mehr, da muss man schon die Tafel über Peter Fechter wahrnehmen, die die Vergangenheit noch richtig wehtun lässt.
Wenig später setze ich mich auf eine Bank, das ehemalige Mossehaus – heute Mosse-Zentrum – im Blick. Im Gesamtensemble dominieren die Stilelemente der Gründerzeit, doch die Spuren der Zeit mit Umbauten, Aufstockung sind sichtbar. Schichtungen und Wirrungen der Geschichte manifestieren sich. Vom einstigen Herausgeber des Berliner Tageblatts Rudolf Mosse erbaut, wird es nach dem 1. Weltkrieg während der Spartakusaufstände beschädigt, im 2. Weltkrieg ebenso, zu DDR-Zeiten ist es Druckkombinat, in den 90er Jahren wird es erneut umgebaut für repräsentative internationale Firmensitze. Ein Rundumschlag eines Jahrhunderts der deutschen Geschichte in einem Gebäude.
Die Balkenhol-Skulptur am Axel-Springer-Haus habe ich bisher nur im Vorüberfahren wahrgenommen, heute stehe ich davor: „Balance“. Die Figur hat nur einen Fuß auf dem hohen Sockel, der andere hängt in der Luft. Ein passendes Bild für die Gegenwart denke ich, wirklichen Boden unter den Füßen hat unsere Gesellschaft und Welt nicht gerade, vieles ist in der Schwebe, offen, ungeklärt, beängstigend. Welche Geste Axel Springers hier zu Beginn der 60er Jahre genau an der Sektorengrenze den Sitz seines Konzerns gebaut zu haben. Auf die Teilung spielt die Skulptur ursprünglich an. Das neue Kohlhaas Gebäude blitzt als modernes Flaggschiff, ein Kraft- und Machtprotz. Weiter Richtung Moritzplatz gehend, lasse ich mich in einem türkischen Café fallen. Was für eine andere Welt nur wenige Meter entfernt vom Medienspektakel. Deutsche Kiezfrauen sitzen hier gemütlich über einfachen Spaghetti und plaudern. Es macht den Eindruck, als kämen sie hier regelmäßig zusammen. Passanten, die vorübergehen grüßen und halten einen Plausch mit ihnen. Der türkische Wirt bietet seinen deutschen Landsleuten einen Treff, die leckeren Böreks, die ich in der Theke entdecke, sehe ich allerdings nirgendwo auf den Tellern. Er kommt ihnen kulinarisch entgegen. Auf dem Weg zur Toilette steige ich über Plastikfolien und Flaschenstapel durch die Küche. Auf einer kleinen elektrischen Herdplatte wird in einer Kasserolle gerade eine Nudelsoße erwärmt. Wo kocht er nur die Nudeln frage ich mich? Für die menschliche entspannte Atmosphäre hier ist das wohl komplett unerheblich.
Ich laufe zu meiner letzten Station heute, der Berlinischen Galerie, um am Schließtag des Museums eine Grafik abzuholen. Die Vorpförtnerin sitzt an dem offenen Tor zum Parkplatz auf einem bunten Schemel. Sie freut sich, dass ich sie anspreche, geht mit mir zum nächsten Pförtner und trägt mein Anliegen vor. Als sie wieder auf ihrem Hocker sitzt, während ich warte, sehe ich ein Eichhörnchen auf sie zulaufen. Wie eine Filmsequenz, die einen ohne weitere Erklärungen berührt. Wider Erwarten werde ich nicht in einem Büro empfangen, sondern durch die geschlossenen und unbeleuchteten Ausstellungsräume gelotst. Im Depot der Grafischen Sammlung, ein lang gezogener Raum, der nichts beherbergt außer Grafikschränke, überschlage ich schnell deren Anzahl, ca. 50 Stück. Hier möchte ich ein paar Tage eingeschlossen werden und überall mal die Schubladen aufziehen. In Zeiten, wo ohne Rechner keinerlei Büroarbeit mehr läuft, bestätige ich auf einem handgeschriebenen Blatt den Erhalt der Grafik. Auf dem Weg hinaus laufen wir direkt auf das Bild „Synthetischer Musiker“ von Iwan Puni zu. Ich erinnere mich an den Spendenaufruf für diese Arbeit zu Beginn der 90er Jahre, als junge Frau zu Beginn ihres Berufslebens überwies ich 20 DM. Heute strahlt er mich aus der Dunkelheit an.
Die Zeitfenster dieses Tages haben mich „mein“ Berlin wieder spüren lassen mit all den Widersprüchen, den Ablagerungen der Geschichte, den Hoffnungen und Zerwürfnissen. Manchmal vermisse ich es zwischen den luxuriösen Neubauten. Heute konnte ich es wieder lieben.
Christiane Bühling