Blockchain oder Seele?
April 2021

Von den Kunst- und Wirtschaftsseiten über brancheninterne Newsletter und Podcasts liest und hört man seit einigen Wochen allseits von den NFT. Highlight dabei ist die Versteigerung der digitalen Collage von Beeple bei Christies für ca. 69 Mio $. Ein Rekordergebnis von dem alle berichten wie zuvor vom Salvator Mundi, dem Diamanten besetzten Schädel von Damien Hirst oder einst von Renoir oder Van Gogh. Ich nehme das neue Phänomen zur Kenntnis, es wird nicht mehr verschwinden, ist Realität. Inwiefern es die analoge Kunst verdrängen wird, vermag ich nicht zu prognostizieren, jedenfalls werden NFT nicht einfach wieder verschwinden und die Zahlung mit Kryptowährung ebenso nicht. Rational erklärbar innerhalb der digitalen Entwicklung unserer Welt ist dieses Geschehen allemal, doch es bleibt außerhalb meiner persönlichen Reichweite.

Am Karfreitag, dem letzten Tag der Ausstellung „Kreuzweg“ von Gregor Schneider in der St. Matthäus-Kirche machen wir uns auf, diese Installation noch zu sehen, vom Rückblick her gesprochen, zu erleben. Ein Kircheneingang, der nach wenigen Minuten in einen dunklen Gang führt, doch bis zu einem bestimmten Punkt noch mit Tageslicht von draußen bei offen stehender Tür so weit erhellt ist, dass ich mich gut orientieren kann. Plötzlich bin ich gezwungen, mich zur Seite zu wenden; man geht in ein Kreuz hinein, geradeaus geht es nicht weiter und das ist die entscheidende Wende. Der Atem stockt mir, allein im Dunkel, im Nichts. In Coronazeiten nehme ich den linken Handschuh aus meiner Manteltasche, taste mich vorsichtig Millimeter weiter, halte mich an der mit Stoff ausgeschlagenen Wand fest. Ich verharre, schließe die Augen, als sei das jetzt noch notwendig. Lasse los, mich, dich, euch, begebe mich hinein in die Leere. Und dieser klitzekleine Moment, in dem ich so bewegungslos stehe, scheint mir mehr innere Freiheit zu schenken als der folgende. Nach zwei, drei kleinen Schritten nehme ich bereits wieder einen Lichteinfall wahr und über die horizontale linke Seite des Kreuzes gelange ich in den Kirchenraum. Möglich wären auch die Austritte nach rechts oder nach vorn gewesen, doch das erfahre ich erst später. Ich bin meinen Weg gegangen. Beim Verweilen im Kirchenraum denke ich, dass eigentlich das Heraustreten aus dem Schwarzen ins Licht der Moment der Befreiung hätte sein müssen. In meiner Wahrnehmung sind es jedoch die Sekunden des Nichtsehens, die meine Erlösung sind. Dabei kommt mir der Künstler Ali Kaaf in den Sinn. Wie oft habe ich Texte geschrieben über sein Werk und in der Kommunikation mit anderen versucht, die Besonderheit seines Werks zu erfassen. Heute habe ich das Gefühl, das häufig mittels Sprache Beschriebene an Leib und Seele erfahren zu haben. In Kaafs abstrakter reduzierter Bildsprache, in der er durch Überlappungen von Papieren einen dritten Raum schafft, ist genau dies Thema: die Leere zulassen, die Suche der Sufis nach dem absoluten Moment, die Zwischenräume als Reflexionsräume.
Völlig nebensächlich bleibt, ob Gregor Schneider oder Ali Kaaf bewusst von einer spirituellen Antriebsfeder geleitet werden. Die Entfaltung einer anderen Dimension als die des Rationalen und vermeintlich Realen ist und bleibt für mich der Kern der Kunst – selten war mir das so klar wie am Karfreitag 2021.
Was dem einen die Blockchain ist, ist dem anderen die Seele.

Christiane Bühling